Ich möchte Musik machen. Ich möchte mit Leuten spielen, meine Songs spielen, meine Gitarre singen lassen, andere begleiten – eben Musik machen. Ist gar nicht mehr so einfach in dem neuen Berlin. Du gehst in Läden wo entweder Kette geraucht wird und du nach drei Songs dann für drei Wochen heiser bist. Oder du gehst in Läden, wo die Leute so unfassbar schlecht sind, dass du denkst, wie kann man sich mit sowas nur auf die Bühne stellen und du musst dich mit denen um einen Slot kloppen. Oder du gehst in Läden, für die du viel zu schlecht bist. Oder du gehst in Läden, wo du megascheisse angemacht wirst. Oder du gehst in Läden, wo du über Facebook dich anmelden und dann ewig lange warten musst, bis du gnädigerweise drei Songs spielen darfst. Oder du gehst in Läden, wo der Lärmpegel der Einflugschneise von Tegel herrscht und keine Sau zuhört. Oder du gehst in Läden, wo du das alles zusammen hast. Oder … oder … oder.

In Berlin gibt es ja viel, aber eben auch megaviel Schrott und Stress.

Die Lösung: mach dein eigenes Ding.

Gedacht, getan.

Auf Facebook in irgendeiner der zahlreichen Musikergruppen ist ein call-for-artists: Musikschaffende zur Bespielung einer kleinen Galerie im Wedding gesucht. Ich melde mich mit dem Anliegen, eine Location für meine eigenen kleinen Jamsessions mit Freunden zu haben, ein tolles Programm mit qualitativ guter Musik auf die Beine zu stellen mit allem, was dazu gehört: guter Sound, gute Leute, gute Konzerte, gute Sessions. Kein Stress, kein Krach, sondern wirklich was mit Qualität und Herzblut und all das. Und natürlich habe ich als Künstlerin superegoistische Eigeninteressen: ich will spielen. Möglichst ohne den ganzen Ärger, ich kenne viele tolle Leute und mein eigenes Zeug ist ja auch nicht so schlecht.

Ich radele da hin. Ein schöner grosser Altberliner Laden, zwei nette junge energetische Frauen. Wir werden schnell “handelseinig” – sie haben den Laden, ich das Zeug, Gesangsanlage, Amps, Mikros, eben so alles, was man braucht. Im Hintergrund hängt so ein so bisschen össeliger Typ rum, Armeeklamotten, Hoodie, ein Riesenhund namens “Schatzi”, der sieht eher so Hausbesetzer-Drogen-Bierflaschenstyle aus. Ich frage mich, was der da macht, wie kommt der mit den beiden Mädels zusammen? Das passt so gar nicht. Er hält sich im Hintergrund, ist halt da, verschmilzt fast mit der Umgebung. Wir machen Termine, wann die erste Veranstaltung stattfinden soll, besprechen Details, der össelige Typ namens – ich nenne ihm mal Jaime – aus Lateinamerika soll mir beim Transport helfen und für die Zukunft: es gibt noch einen Keller, den man ausbauen könnte. Sieht alles ganz gut aus, auch wenn ich die Räume eher nicht knallpink und grün gemalert hätte. Aber ist eben Berlinstyle, selbstgemacht, wenig Geld, viel Phantasie, junge Leute mit Ideen und Power.

Die erste Veranstaltung. Ich habe einen Bekannten aktiviert, er will paar seiner Songs spielen, ich ein paar meiner und dann wollen wir sehen, ob paar Leute kommen. Gleichzeitig findet eine Vernissage statt mit Arbeiten eines russischen Malers. Ich bin schon nachmittags hingefahren mit meinem Monster-Oldtimer-Wohnmobil um Jaime einzusammeln und die ganzen Sachen aus meinem Proberaum zu holen. Das Womo wird erst mal gebührend bewundert – es ist ja auch wirklich special. Dann klettert Jaime rein und ich muss erst mal mein Fenster aufreissen – MANN, der könnte auch mal ne Dusche nehmen abgesehen von der süsslichen Restalkoholwolke, die ihn umgibt. Seine Fingernägel sind sehr sehr kurz und total dreckig und seine Zähne total runtergeknirscht. Ich denke, Junge, du bist ein netter Kerl, aber du hast da irgendwo ein Riesenproblem sitzen …

Aufgebaut ist, ein Kumpel von Jaime hängt da rum, eine Nervensäge vor dem Herrn. Ich kann ja selber ganz gut angeben und Sprüche reissen, was ich so alles gemacht und erlebt habe, ich hatte ja auch schon ein Leben. Aber ich bin immer noch in der Lage, den anderen Raum zu lassen für deren Stories. Das ist der junge Mann nur leider überhaupt gar nicht – meine Güte, der stresst echt total! Redet und redet und redet und lässt einen so gar nicht zu Wort kommen und weiss alles besser und setzt immer noch einen drauf. Ich möchte nicht so genau wissen, wieviel Koks der jetzt intro hat. Anyway… Wedding halt, voll mit krassen und komischen Typen.

Nach dem Aufbau fahre ich noch mal nach Hause, das Auto loswerden, damit ich nachher ein Bier trinken kann. Mit den Mädels habe ich verabredet, dass die Sachen da bleiben. So können wir relativ stressfrei die Veranstaltungen machen, einfach alles aus dem Keller holen, anschliessen, loslegen, nach Ladenschluss alles wieder runterräumen und die Bude ist leer und ordentlich fürs nächste Event. Mit dem Ausbau des Kellers, na, da denke ich noch mal drüber nach, erst mal schauen, wie es läuft, bevor ich Geld und Energie versenke…

Zurück im Laden sind wir eine Lady und Jaime hinter der Theke, mein Musikerkollege und der Kokskumpel und ich davor. Jaime scheint in den hinteren Räumen des Ladens zu wohnen, er verschwindet immer wieder dahin. Der Kokskumpel nervt. Mein Bekannter und ich holen die Gitarren raus und spielen. Das ist doch immer wieder die beste Art, die Zeit rumzubringen bis die Veranstaltung anfängt. Ausserdem muss ich dann dem Gesabbel von Kokskumpel nicht mehr zuhören.

Zwischendrin kommen noch Bekannte von mir, aber ansonsten ist der Publikumsflow eher mau. Ist halt eine ganz neuer Laden, da kann man nicht erwarten, dass die Massen strömen. Der Künstler hat sein Publikum, scheint seine UdK-Klasse zu sein oder so. Die kaufen ihr Bier im Späti und Jaime ist sauer. Er hatte sich mein E-Bike mit Hänger geborgt und extra noch mal den Kühlschrank vollgemacht. Dass er sich ärgert, kann ich nachvollziehen, nicht nur, dass es sehr unhöflich ist – jedes kleine Galeriestartup in Berlin lebt vom Bierverkauf auf den Vernissagen.

Mein Bekannter und ich beschliessen, jetzt einfach das Konzert anzufangen auch wenn für die Musik noch nicht so richtig Leute da sind, nur Vernissagegäste. Aber dann beschallen wir halt die. Jaime und Kokskumpel setzen sich vor die Bühne, Jaime hat mir schon beim Soundcheck Komplimente gemacht: “es klingt wie eine CD” in seinem lustigen Latino-Akzent-Deutsch. Ich freue mich darüber, die harte Arbeit an Gitarrensound und Stimme war nicht umsonst.

Wir spielen. Ich spiele paar meiner Songs, mein Bekannter begleitet, macht kleine Soli, macht Spass. Die kunstschaffende und -konsumierende Gesellschaft bleibt im anderen Raum. Alles sehr junge und anscheinend sehr auf sich bezogene Menschen, die sich nur für ihre eigene Kunst und die der Bekannten interessieren. Sie bleiben unter sich, unterhalten sich, was wir machen ist ihnen egal. Anyway. Macht trotzdem Spass. Dann tauschen mein Mitmusiker und ich die Rollen. Er beginnt einen seiner Songs, ich begleite, will grade zum Solo ansetzen, da explodiert es auf einmal vor der Bühne. Jaime und Kokskumpel haben sich anscheinend in der Wolle, die Fäuste fliegen, ich weiss nicht, ob es nur Gesten oder wirkliche Prügel sind. Es geht hin und her, mit dem Künstler und seinen Leuten fliegen plötzlich auch die Fetzen … wir hören auf zu spielen und mein Musikerkollege sagt: “Ich glaube, das Konzert ist vorbei”. Ich erwidere: “Das glaube ich auch … lass uns schnell einpacken, bevor was zu Bruch geht.” Wir packen ganz doll schnell die teuren Gitarren ein. Mein Bekannter ist auch noch Linkshänder, so dass seine Instrumente noch teurer sind als meine. Also bloss in die Koffer damit!

Zum Glück beruhigt die Lage sich relativ schnell was das Fliegen der Fäuste angeht. Der Künstler nimmt mit Hilfe seiner Freunde seine Bilder von der Wand und verschwindet inklusive Entourage. Kokskumpel nimmt seine Bilder von der Wand und veschwindet ohne Entourage. Mein Musikerkollege hilft noch beim Wegräumen und verschwindet dann auch mit seiner Gitarre. Ruhe kehrt ein. Wir sitzen rum und trinken Bier. Jaime holt was zu essen von hinten, wir teilen das Essen von einem Teller. Er meint nur lakonisch, dass Kokskumpel ab und zu mal ne Schelle braucht und dann ist wieder alles ok. Okaaaaay …….

Es kommt noch ein schräger Typ von der Strasse rein. Ich halte mich an meinem Bier fest, aber so viel wie die anderen kann ich in einer Woche nicht trinken. Ich unterhalte mich mit Jaime, bzw. erst mal kommt die übliche Frage: “Hast du einen Freund?” Ich sage: “Nein, und ich will auch keinen!” Damit ist der Keks gegessen, kaum zu glauben, meistens ist das nicht so einfach.

Ich frage: “Wessen Laden ist das hier eigentlich, wer ist der Hauptmieter?” Jaime sagt recht vehemt: “Das ist MEIN Laden, ich bin Hauptmieter!” Ich denke: “Scheisssse …. ich glaube, mit dem will ich nicht zusammenarbeiten….” Der ist mir zu fertig. Wesentlich später erfahre ich, dass alles auf seine Mutter läuft. Auch interessant, die Leistung seiner Mutter (Laden suchen, mieten, Geld auftreiben usw.) als seine eigene darzustellen, aber das ist ein anderes Thema. Beim allerersten Sehen hatte ich ihn wesentlich jünger eingeschätzt, dann hatte ich gemerkt, dass er wohl doch älter ist, so Ende Dreissig denke ich. Und jetzt stellt er sich als der Hauptmieter heraus. Das bedeutet für mich, dass ich mit einem offensichtlich drogen- und alkoholaffinen Menschen Business machen soll und nicht mit den beiden sympathischen und fitten Frauen – wohl doch eher nicht. Ich trinke noch mein Bier aus und verschwinde dann auch nach Hause. Das Womo hatte ich ja nach dem Aufbau schon weggebracht und war mit dem Rad wiedergekommen, so radele ich durch die Nacht nach Hause. Jaime bot mir noch an, doch auf dem Sofa zu übernachten – alles, nur das nicht …

In den nächsten Tagen telefoniere ich mit einer der Frauen, die meint, das sei doch alles halb so wild gewesen und Jaime und Kokskumpel würden sich schon wieder vertragen.

Bei der nächsten Veranstaltung erlebe ich dann das erste Mal in meinem Leben hautnah, wie einer KO geschlagen wird. Alles hatte sich ganz gut angelassen, meine temporäre Mitbewohnerin war da, ihre Freundin, tolle Musikerinnen, schöne Session. Die temporäre Mitbewohnerin aus den USA ist ausgebildete Opernsängerin mit einem unglaublichen Stimmdruck, unfassbar, was da rauskam. Ihre Freundin spielte wunderbare Folksongs und begleitete sich auf einer eben so wunderbaren Gitarre. Meine Mitbewohnerin sang für uns eine Arie, dass die Fensterscheiben schepperten. Von der Strasse waren ein paar arabische Jungs reingekommen, denen erst mal die Kinnlade runterfiel. Sowas hatten die noch nie gehört, mittlerer Kulturschock. Wir sassen dann noch eine Weile zusammen, lachten, flachsten rum, alles easy und angenehm. Dann löste sich die Versammlung so langsam aus und ich fing an, abzubauen.

Jaime hat wieder sehr merkwürdige Freunde da, darunter ein Typ in Malerklamotten und eine Frau mit stinkenden Dreads bis zum Hintern und stecknadelkopfkleinen Pupillen, offensichtlich total zugedröhnt und natürlich der in der Hausbesetzerszene obligatorische riesige Köter, nicht so nett wie Schatzi. Plötzlich fliegt von draussen eine Flasche gegen die schon geschlossene Tür und zerklatscht mit lautem Scheppern. Jaime ist grade im vorderen Raum am Aufräumen, greift sich einen herumliegenden Zimmermannshammer, reisst die Tür auf und rast hammerschwingend raus. Ich sofort hinterher, draussen die arabischen Jungs, die sofort lautstark beteuern: “Ey, wir waren das nicht, waren zwei Typen die haben Flasche geschmissen”. Ich antwortete, verfalle ganz schnell in Weddingslang: “Ey, glaub isch eusch voll aber bitte Leute, lasst so einen schönen Abend nicht Scheisse enden, wir hatten doch voll Spass zusammen …” dann sage ich zu Jaime: “Mann Alter, tu das Ding weg, bist du wahnsinnig, willst du einen umbringen?” – ich sehe schon die Hammerspitze in irgendeinem Kopf stecken. Er lässt sich den Hammer auch ganz widerstandslos aus der Hand nehmen, das Ding ist zum Glück gleich wieder aus dem Spiel. Ich lege den schnell irgendwohin, bloss weg damit

Aber leider habe ich nicht mit der bedröhnten Frau und ihrem Typ in den Malerklamotten gerechnet. Die waren auch rausgerannt und offensichtlich superaggro und auf Stress aus. Beide fangen an, die arabischen Jungs anzupöbeln. Ich vertraute auf die männliche “Beisshemmung” Frauen gegenüber und gehe dazwischen. Blöderweise kann ich mich aber nicht durchschneiden und während ich mit der Dreadlockfrau beschäftig bin um die zur Ruhe zu bringen, beschimpft ihr Macker einen der Araber. Der steht breitbeinig und stämmig da mit verschränkten Armen und hört sich das eine Weile an. Dann auf einmal kommt ein blitzesschneller Schwinger und der Typ in den Malerklamotten kippt um wie ein gefällter Baum. Ich schiesse rüber und sage: “Alter, bitte, ihr habt gewonnen, okay? Der hat gepöbelt und jetzt ist er k.o. – ey bitte, nicht noch mehr Stress, wir wissen doch alle, was dann geht, Bullen, Ärger, das muss doch nicht sein … “ und tatsächlich sind die arabischen Jungs vernünftig und ziehen mit zufriedenen Gesichtern ab. Feind liegt ja auch am Boden und die Ehre ist gerettet.

Wir sammeln dann den Typen ein, ich trage ein Bein, seine Freundin das andere und Jaime den Oberkörper. Drinnen packen wir ihn auf das Sofa und drehen ihn auf die Seite. Nach einer Weile fängt er an zu schnarchen und scheint also okay zu sein. Ich sehe dann zu, dass ich wegkomme – das ist echt nicht meine Vorstellung von einem angenehmen Ende eines Musikabends!

Am nächsten Tag rufe ich eine der Mädels an und erzähle ihr die ganze Story. Sie meint: “komisch, dass passiert immer nur, wenn du da bist”. Ich muss lachen und sage: “Ja, danke! Ich muss auch immer bis zum Schluss bleiben zum Abbau, du machst dich ja um 23:00 davon und kriegst die Irren gar nicht mit, die dann noch hier einrollen!” Wir reden ziemlich lange, ich will eigentlich aus dem Projekt aussteigen, aber sie meint, Jaime sei ein guter Freund von ihrem Freund und ich hätte ja sicher inzwischen gemerkt, dass er ein massives Drogenproblem hätte, aber er sei kein schlechter Kerl und ich solle der Sache doch noch eine Chance geben. Na gut, denke ich, ist eh nur noch eine Veranstaltung vor der Sommerpause und danach sehen wir weiter.

Das Wochenende danach denke ich, ich könnte ja einfach mal so hingehen, Leute treffen, netzwerken und so. Aber irgendwie habe ich so ein Scheissgefühl dabei, dass ich es lieber sein lasse.

Dann ist die letzte Veranstaltung vor der Sommerpause. Ich komm da an, eine der Ladies fehlt, kein Jaime, hinter der Bar eine Frau mit den traurigsten Augen der Welt, die mir als Jaimes Mama vorgestellt wird. Ich fragte nach der anderen jungen Frau – sie ist ausgestiegen. Kluges Mädel, denke ich. Und Jaime? Er sei auf Mallorca, habe dort kurzfristig einen gut dotierten Job bekommen und müsse den durchziehen, um seine ganzen Schulden zu bezahlen. Scheint mir plausibel, auf der Insel gibt es ja einige reiche Deutsche, die eine Finca oder sowas haben und da ist jemand, der Deutsch und Spanisch spricht und einigermassen arbeiten kann, sicher willkommen. Wenn er dann beim Arbeiten noch weniger zum Saufen oder sonstwas kommt umso besser für ihn, sein Portemonnaie und seine Leber.

Der Abend verläuft ohne weitere Vorkommnisse, keine Schlägereien, kein Streit, superschön, alles gut. Ich habe dieses Mal das Womo vor die Tür gestellt, dann musste ich nachts nicht mehr mit dem Rad nach Hause und kannt so viel Bier trinken, wie ich lustig bin. Also geh ich nach der Veranstaltung noch rüber ins “Bei Ernst”, wo eine Band die Bude rockt und das berühmte eine Bier zu viel konsumiert wird, so dass ich am nächsten Morgen dann mit einem grässlichen Kater in meinem Womo aufwache … autsch, aber selber schuld.

Erst mal fahre ich nach Hause zum Duschen und um wieder unter die Lebenden zurückzukehren. Dann gefällt mir das aber nicht, dass meine ganzen wertvollen Musiksachen da über die Sommerpause bleiben sollen und wenn der Abend vorher noch so chillig und friedlich war. Mein Bauchgefühl will das da alles so schnell wie möglich raus haben. Also fahre ich wieder hin, Jaimes Mama lässt mich rein und ich packe mein ganzes Zeug und schleppe es zurück in meinen Proberaum. Fluchend und schwitzend ganz alleine, später sollte sich das als die beste Aktion ever erweisen. So war diese Galerie dann erst mal für mich gegessen. Im Herbst könnte man dann weitersehen.

Zwei Tage später klappe ich morgens den Computer auf und fange an, die Morgenzeitung zu lesen und denke, mich trifft der Schlag: Riesenschlagzeile “Razzia in der Galerie xy”. Von dem Koffermord hatte ich schon gehört, eine ermordete Frau in einen kleinen Koffer gequetscht, den in einen grossen und alles in die Spree geschmissen. Das war vorher tagelang durch die Presse gegangen zusammen mit Bildern von persönlichen Habseligkeiten der armen Frau, die auch mit drin waren und die ja vielleicht jemand erkennen würde.

Ein Spaziergänger hatte den am Ufer angetriebenen Koffer entdeckt und dachte, vielleicht sei ja was Interessantes drin. War es auch, aber eher nicht so von seinem Interesse. Der Spaziergänger rannte dann schreiend weg, andere Spaziergänger riefen die Polizei und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Nun musste ich lesen, dass dieser arme Mensch im dieser Galerie ermordet worden war und der mutmassliche Täter – ein 38jähriger Mann lateinamerikanischer Abkunft – flüchtig sei. Ich dachte: “Oh mein Gott – Jaime ….???” Andere hatten die persönlichen Gegenstände der Ermordeten erkannt, die Polizei darauf hingewiesen, dass sie sich in dieser Galerie aufgehalten habe und eine Rucksackreisende aus Norwegen namens … sei. So kam es zur Durchsuchung der Galerie und Bingo – die Spuren sagten alles. Ich kontakte die verbliebene Galeristin über Facebook und frage sie, ob mit dem flüchtigen Täter Jaime gemeint sei. Die Antwort ist positiv.

Später werde auch ich als Zeugin geladen und bekomme den Rest der Geschichte mit. Es gab einen Streit zwischen Jaime und der Frau, beide waren wohl nicht wirklich nüchtern dabei und es stand ein Topf mit Kartoffeln rum, wo ein Messer drin steckte. Jaime griff und stach zu. Ein Kumpel von Jaime sass im Nebenzimmer rum und schaute fern. Dann kam Jaime rüber und sagte: “es ist vorbei”. Nun war die Frage – wohin mit der Leiche? Sie schafften sie erst mal in den Keller. Nur hat so eine Leiche die Angewohnheit, nicht lange in dem Zustand zu bleiben, in dem sie sich direkt nach dem Ableben befindet. Also musste die weg. Die beiden Typen packten sie wohl erst zwei Tage später in einen kleinen Koffer, sie passte als sehr zierlicher Mensch so grade rein. Der kleine Koffer wurde in einen grossen Rollkoffer gepackt und dann machte Jaime sich auf den Weg zur S-Bahn, rumpelpumpel übers Kopfsteinpflaster und Berliner Schweinebäuche (so heissen die grossen Gehwegplatten), buckelte den Koffer in die Bahn, fuhr quer durch die Stadt und schmiss ihn dann am Treptower Park in die Spree. Dann machte er sich über Spanien nach Mexico davon und wurde dort durch die internationale Fahnung irgendwann erwischt. Für falsche Papiere hatte er wohl weder Zeit noch Geld gehabt und gehofft, Lateinamerika sei gross genug zum Abtauchen. Nach ein paar Monaten im mexikanischen Knast wurde er nach Deutschland ausgeliefert. Er wurde hier wegen Totschlag zu sieben Jahren verurteilt.

Und ich hatte mit mit dem ein Bier und ein Essen geteilt bei der ersten Veranstaltung! Bei dem Gedanken wird mir immer noch ganz anders.

Fazit: ich bin dankbar für mein Bauchgefühl. Ich neige ja schon zu einer gewissen Blauäugigkeit und Naivität im Umgang mit anderen, aber anscheinend ist da doch noch so eine Art Notbremse in mir installiert, wenn es wirklich ums Eingemachte geht. In dem Zeitraum, in dem die Tat geschehen war, waren noch andere Veranstaltungen in dem Laden. Ich hatte wie vorher schon erwähnt, überlegt, ob ich einfach mal so hingehen sollte, Netzwerke knüpfen, Leute treffen und so weiter. Ich hatte an einem Abend schon fast die Schuhe an, aber gleichzeitig so ein untreirdisch mieses Gefühl, dass ich mich dagegen entschied, so als ob eine innere Stimme zu mir sagt: “Mädel, geh da nicht hin! Das ist kein guter Ort!” Ich bin froh, dass ich auf diese Stimme gehört habe, ich bin froh, dass ich meine Sachen weggeholt habe und dass ich, obwohl es mir megaschwer gefallen ist, diesen Ort losgelassen habe – und wenn ich noch so gerne eine eigene Sessionlocation gehabt hätte. Sonst wäre vielleicht ich in einem Koffer gelandet. Dann spiele ich lieber im schlimmsten Fall alleine zuhause und danke der Schicksalsgöttin Atropos, dass sie meinen Lebensfaden noch nicht abgeschnitten hat.

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