Ich stehe irgendwo in Schöneberg in einem U-Bahnhof. Berliner Winter, nicht richtig kalt, aber driesselig-feucht, die Luft schmeckt nach Dreck und Stadt, schleimig und stickig mit U-Bahngerüchen gesättigt. Sie zieht in Mund, Nase und Rachen, fast als ob die Unterwelt der BVG mit kalten klammen Fingern in dich reingreift und dich mit ihrem nassen Nebel füttert. Lutschbare Luft, aufsteigend von nassem Beton mit einem Hauch von Gülle, ähnlich wie im Schweine-KZ oder im alten Tacheles nach einer durchfeierten Nacht.

Im U-Bahnhof bin ich froh, wenigstens aus dem feuchtkalten Fieselregen raus zu sein. Es ist früher Nachmittag und nix los, tote Hose, kein Mensch auf dem düsteren Bahnsteig, wahrscheinlich alle im Sauberen in warmen Wohnungen trocken und sicher im Winterschlaf. Die richtige Zeit, von Palmen zu träumen, aber wahrscheinlich stehen selbst die im Nebel.

palmenimnebel© M. Hartmann
Die U-Bahn schiebt eine dröhnende Wolke eisengeschwängerte Tunnelluft vor sich her, fährt ein und kommt zum Stehen.

Der Waggon direkt vor meiner Nase ist anscheinend leer wie der Bahnhof. Ich ziehe die Türen auf, steige in die Stille ein und ein freudiges Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Der ganze Waggon, alles meins – meins – meins?! Ich kann mich hinsetzen, wohin ich will! Hinter meinem Rücken schliesst sich die Doppeltür mit einem dumpfen Bums und Pffffffffffffffffffft. In dem Moment steigt mir etwas in die Nase.

Etwas wirklich Schlimmes. Mein Grinsen wird zur Grimasse.

Die Bahn fährt los. Ich versuche, flach zu atmen, oh quelle odeur, o quelle arôme, Yersinia Pestis, so wenig wie möglich davon in mich hineinlassen, drücke mich mit dem Rücken gegen die Tür, denke, oh mein Gott, was ist das??? Ich ziehe den Schal über Mund und Nase, beuge mich vor mit suchendem Blick und sehe auf der langen Bank in der Mitte des Waggons einen Obdachlosen liegen. Er schläft den Schlaf des Gerechten und riecht dermassen unglaublich, so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gerochen. Scheisse, Schnaps, Fäkalien, Fäulnis, Kacke, Körper, Pisse, Leiche. Gifthauch, Pestilenz, Verwesung, Verrottung, Grab und Gruft, the Living Dead haben ihr Lager in der Berliner U-Bahn. Ich habe mich wohl getäuscht – nix meins, meins, meins, hier verteidigt einer sein Revier besser als alle, dagegen kann wirklich keine anstinken.

Ich drehe instinktiv den Kopf hin und her, wohl ein tief in mir liegender roher Reflex, steinzeitliche Suche nach dem Fluchtweg aus der geruchsintensiven Höhle des Bären, in die ich aus Versehen grade gestolpert bin und den ich auf gar keinen Fall aus dem Winterschlaf wecken will. Natürlich gibt es bis zum nächsten Bahnhof keinen Weg hier weg.

Panik in mein Gesicht gegraben schaue ich durch die Verbindungsfenster zum nächsten Waggon. Auf dem mittleren Sitzplatz der Bank am Zwischenfenster sitzt eine asiatische Frau eingeklemmt zwischen zwei Berliner Muttis. Wir sehen uns an und ich sehe in ihren dunklen schrägen Augen das Funkeln des Lachens aufsteigen, sie beisst die Zähne zusammen, beherrscht sich, und ich weiss, sie war grade eben auch hier drin.

Ich halte die Luft an.

Am nächsten Bahnhof reisse ich die Tür auf, bloss raus hier mit einem Riesensatz, Luft, echte Luft in meinen Lungen! Ich reisse den Atem in tiefen Zügen in meinen Körper und sprinte in den nächsten Waggon.  Der ist allerdings ziemlich voll.  Aber es ist genau noch ein Sitzplatz frei, gegenüber der Asiatin im Abteil am Zwischenfenster. Ich drängel durch und lasse mich auf die Bank plumpsen. Wir sitzen uns gegenüber auf den Mittelplätzen eingeklemmt zwischen umfangreichen Sitznachbarinnen und ihren Tüten und Taschen. Wir sehen uns ins Gesicht, ihre asiatische Selbstbeherrschungshülle platzt und wir fangen beide an, haltlos zu lachen wie die Irren. Die nichtsahnenden Umstehenden wenden die Köpfe, wundern sich, starren auf uns und weichen zurück soweit das im Gedränge möglich ist.

Plötzlich sind wir auch gar nicht mehr eingeklemmt auf unseren Mittelplätzen, die Berliner Muttis hatten eine zauberische Millisekundenschlankheitskur, sie sind ganz plötzlich ganz schmal und touchieren nur noch die Wand sehr intensiv, uns nicht mehr. Wahrscheinlich denken alle, wir ziehen jetzt gleich die Messer raus, sind aus Bonnies Ranch, abgehauen aus der Forensischen, gemeingefährliche Irre. Weinen, leiden in der Öffentlichkeit ist ja okay, das bringt Mitleid, Verständnis, ist normal, aber Lachen? Laut, wild, zwei fremde Frauen, ohne Worte, ohne offensichtlichen Anlass, eine davon auch noch migrationshintergründisch?

Ich muss so lachen, dass ich mich fast verschlucke.

Wir versuchen beide, uns wieder einzukriegen, lösen den Blick voneinander und schauen durch die Scheibe in den anderen Waggon. Die Bahn ist grade ratternd und rumpelnd in den nächsten Bahnhof eingefahren. Ein Typ steigt in den Nachbarwaggon, mit einem grossen freudigen Grinsen im Gesicht: “Der ganze Waggon, alles meins – meins – meins?! Ich kann mich hinsetzen, wohin ich will!” Hinter seinem Rücken schliesst sich die Doppeltür mit einem dumpfen Bums und Pffffffffffffffffffft. In dem Moment steigt ihm etwas in die Nase.

Etwas wirklich Schlimmes. Sein Grinsen wird zur Grimasse.

Die Bahn fährt los. Er versucht, flach zu atmen, oh quelle odeur, o quelle arôme, Yersinia Pestis, so wenig wie möglich davon in sich hineinlassen, er drückt sich mit dem Rücken gegen die Tür, denkt, oh mein Gott, was ist das??? Zieht den Schal über Mund und Nase, beugt sich vor mit suchendem Blick und sieht auf der langen Bank in der Mitte des Waggons den schlafenden Bären.  So etwas hat er in seinem Leben noch nicht gerochen. Scheisse, Schnaps, Fäkalien, Fäulnis, Kacke, Körper, Pisse, Leiche. Gifthauch, Pestilenz, Verwesung, Verrottung, Grab und Gruft, the Living Dead im Geruchspanzer. Er hat sich wohl getäuscht – nix meins, meins, meins, hier verteidigt einer sein Revier besser als alle, dagegen kann wirklich keiner anstinken.

Er wirft einen verzweifelten Blick durch die Scheibe in unseren Waggon. Die Blicke treffen sich.

Unser Gelächter wird hysterisch, Hyänen sind harmlos gegen uns.

An der nächsten Station schiesst er japsend aus der Bärenhöhle raus und in unseren Waggon rein. Die Asiatin und ich schauen ihn an, schütteln uns vor Lachen, ich muss mir die Tränen von den Wangen wischen. Er hält sich an der Stange im Türraum fest, in dem Schutzraum zwischen den von uns beiden gemeingefährlichen Wahnsinnigen zurückgewichenen Umstehenden und schaut zurück mit versteinertem Gesicht. Nicht alle haben denselben Humor und zum Glück können Blicke tatsächlich nicht töten.




Share

Post filed under Allgemein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.